Lesen gegen das Vergessen

Zu Beginn einer Rede aus dem Jahr 2011 anlässlich des Gedenktags gegen Hass und Rassismus im österreichischen Parlament in Wien trug Ruth Klüger ihr  Gedicht Der Kamin vor – „erstmals in der Öffentlichkeit“, wie sie betonte. Sie hatte die erschütternde Lyrik 1944 als Kind im KZ Auschwitz verfasst und nach dem Krieg an eine deutsche Zeitung geschickt. Diese druckte aber nur einen Teil ihres Gedichts mit verstümmelter Aussage ab. Der Kommentar der Zeitung dazu: Einige Teile seien nicht zur Veröffentlichung geeignet, da sie das ganze Elend eines Kindes zeigten. Diese Geschichte sei symptomatisch für den Umgang mit dem Holocaust. Zu oft habe man den Holocaust-Überlebenden – vor allem den Kindern – nicht zugehört, sondern die eigenen Gefühle der Erschütterung in den Vordergrund gestellt.“ (Parlament der Republik Österreich, online unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/AKT/SCHLTHEM/SCHLAG/J2011/2011_04_14_Gedenktag_Jugendliche.shtml)

Neun Jahre später lesen fünf Schülerinnen der HES das Gedicht Der Kamin von Ruth Klüger zum Gedenken der Bücherverbrennung 1933 und der Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren. 

Damit reihen sie sich in eine Gruppe aus Mitgliedern des Künstlerinnenforums und engagierten Bielefelderinnen ein. Prägnante Texte und Gedichte stammen von Ilse Aichinger, Esther Bejarano, Elfriede Gerstl, Mascha Kaléko, Ruth Klüger, Renate Lasker-Harpprecht, Selma Meerbaum-Eisinger, Anna Seghers und Luise Straus-Ernst. Die von Ramona Kozma gesungenen und auf dem Akkordeon gespielten Musikstücke erinnern an verfolgte Sängerinnen wie beispielsweise Dora Gerson und rahmen die Lesungen.

 

 

DER KAMIN (Ruth Klüger, 1944, damals 13 Jahre) 

Täglich hinter den Baracken 

Seh ich Rauch und Feuer stehn. 

Jude, beuge deinen Nacken, 
Keiner hier kann dem entgehn. 
Siehst du in dem Rauche nicht 
Ein verzerrtes Angesicht? 
Ruft es nicht voll Spott und Hohn: 
Fünf Millionen berg' ich schon! 
Auschwitz liegt in meiner Hand, 
Alles, alles wird verbrannt. 

Täglich hinterm Stacheldraht 
Steigt die Sonne purpurn auf, 
Doch ihr Licht wirkt öd und fad, 
Bricht die andre Flamme auf. 
Denn das warme Lebenslicht 
Gilt in Auschwitz längst schon nicht. 
Blick zur roten Flamme hin: 
Einzig wahr ist der Kamin. 
Auschwitz liegt in seiner Hand, 
Alles, alles wird verbrannt. 

Mancher lebte einst voll Grauen 
Vor der drohenden Gefahr. 
Heut' kann er gelassen schauen, 
Bietet ruh'g sein Leben dar. 
Jeder ist zermürbt von Leiden, 
Keine Schönheit, keine Freuden, 
Leben, Sonne, sie sind hin, 
Und es lodert der Kamin. 
Auschwitz liegt in seiner Hand, 
Alles, alles wird verbrannt. 

Hört ihr Ächzen nicht und Stöhnen, 
Wie von einem, der verschied? 
Und dazwischen bittres Höhnen, 
Des Kamines schaurig Lied: 
Keiner ist mir noch entronnen, 
Keinen, keine werd ich schonen. 
Und die mich gebaut als Grab 
Schling ich selbst zuletzt hinab. 
Auschwitz liegt in meiner Hand, 
Alles, alles wird verbrannt.